"Ashura-Prozessionen in Istanbul" (Photo: Sophie Moser, September 2019)

Forschungsprojekt von Sophie Moser

Ziel dieses Forschungsprojekts ist es, die Erinnerung der schiitischen Gemeinschaften an die Schlacht bei Kerbela in Istanbul und ihre Selbstverortung der religiösen Identität in der Interaktion mit Staat und Gesellschaft in der Türkei ab 1978 zu untersuchen. In religiöser Selbstsicht und Praxis ist für die Schiit*innen in der gesamten islamischen Welt die Schlacht von zentraler Bedeutung, da sie als Höhepunkt des Nachfolgestreits um die Führung der Umma zur endgültigen Abspaltung vom umayyadischen Kalifat unter Yazīd 680-683 führte. Der Schlacht wird in den ersten zehn Tagen des Muḥarrams gedacht, aber ihre Bedeutung für die schiitische Erinnerungskultur geht weit über diese Gedenktage hinaus. Während der iranischen Revolution 1977-1979 riefen die Menschen bei den Demonstrationen mā ahl-e kūfa nīstīm – wir sind nicht die Leute aus Kufa, um sich von den Kufaner*innen abzugrenzen, die Ḥusain während der Schlacht nicht zu Hilfe geeilt waren. Das Narrativ von einer noch immer andauernden Schuld zeigt sich daher bis heute. Während Ayatollah Khomeini in Iran eine Islamische Republik begründete und damit weltweit eine stärkere Selbstverortung von Schiit*innen als schiitisch bewirkte, führten Migrationswellen aus den ostanatolischen Gebieten Kars und Iğdır sowie aus Aserbaidschan, Iran, Irak und dem Libanon zu wachsenden schiitischen Gemeinschaften in Istanbul und der Aufnahme von öffentlichen ʿĀšūrāʾ-Prozessionen, Taʿzīye-Aufführungen und Reden in den Tagen vom ersten bis zum zehnten Muḥarram. Auch Rahmenveranstaltungen wie das Verteilen von Speisen und Getränken auf den Strassen wurden wichtiger Bestandteil des Rituals. Im Zuge dessen schlossen sich die Schiit*innen im Stadtteil Halkalı zu Gemeinschaften zusammen und erbauten 1978-1979 die Zeynebiye Camii, die bis heute das schiitische Zentrum Istanbuls darstellt. Nach dem Erdbeben 1999, bei dem die Moschee stark zerstört wurde, bauen die schiitischen Gemeinschaften Istanbul seit 2009 einen neuen Moscheekomplex, der voraussichtlich in den kommenden Jahren fertiggestellt wird.

Das Projekt hat zum Ziel, historische, philologische und ritualpraktische Forschungsansätze zu verknüpfen und zu untersuchen, welchem Wandel die Ritualpraxis, kondensiert in der Erinnerung an die Schlacht bei Kerbela, durch historische Gegebenheiten im nationalen Kontext unterworfen ist. Hierzu soll der Schwerpunkt besonders auf drei wesentliche Felder gelegt werden: a) schiitische Gemeinschaften als religiöse Minderheit im Vergleich zur sunnitischen Mehrheitsgesellschaft in Istanbul in der historischen Perspektive des späten 20. und 21. Jahrhunderts, b) sprachliche Hegemonien und innerschiitische Dynamiken über die Deutungshoheit der Erinnerungskultur, c) Aushandlungsprozesse zu religiösen und nationalen Identitäten, in der Weise nämlich, dass dem türkischen und iranischen Nationalstaatskonzept jeweils eine starke sunnitische bzw. schiitische Komponente eingeschrieben ist.

Betreuer: Prof. Dr. Maurus Reinkowski

Finanziert durch: Swiss National Science Foundation (SNF)

Periode: 2021–2025

Sophie Moser
Assistentin / Doktorandin
Sophie Moser
Philosophisch-Historische Fakultät
Departement Gesellschaftswissenschaften
Professur Reinkowski

Assistentin / Doktorandin

Maiengasse 51
4056 Basel
Schweiz

Tel. +41 61 207 28 66
sophie.moser@unibas.ch