SIBA - Visuelle Zugänge zur vergleichenden Lebensweltforschung in Jugoslawien und in der Türkei, 1920er und 1930er Jahre

Das SIBA-Projekt untersucht anhand von Pressefotografie, wie sich der öffentliche Raum jugoslawischer und türkischer Städte nach dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang des Osmanischen Reiches veränderte. Es wirft einen frischen und unvoreingenommenen Blick auf den nationalen Aufbruch und postosmanische Urbanität der Zwischenkriegszeit und verortet diese im europäischen Kontext. Damit stellt das Projekt liebgewordene Vorurteile über Südosteuropa in Frage und regt zur Reflexion über Gemeinsames und Trennendes, über den europäischen Zeitgeist der Zwischenkriegszeit und orientalische 'Otherness' an.

In den 1920er und 1930er Jahren stellten die grossen Tageszeitungen in Südosteuropa erstmals hauseigene Fotoreporter an, welche mit grossem Enthusiasmus das Potential des neuen Mediums Pressefotografie ausloteten und die Entwicklung ihrer Wirkungsorte dokumentierten. Das SIBA-Projekt analysierte Tageszeitungen aus Istanbul, Ankara, Belgrad und Sarajevo (SIBA) und recherchierte Bildarchive von bekannten und weniger bekannten Fotoreportern wie Selahattin Giz, Namik Görgüç, Aleksandar Aca Simic, Svetozar Grdijan sowie Alija Aksamija, die der Öffentlichkeit bisher nicht oder kaum bekannt waren. Damit verbunden war der Aufbau einer mehrere tausend Bilder umfassenden Datenbank.

Fotografien eröffnen einen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit. Ein interessantes Bild fesselt den Blick und zieht den Betrachter, die Betrachterin gleichsam hinein in eine andere Zeit. Doch die historische Arbeit mit Bildern ist eine grosse Herausforderung. Was genau zeigt eine Fotografie? Wann wurde sie geschossen? Weshalb und für wen? Und wer drückte wohl den Auslöser? Mehr über die Entstehungsgeschichte von Fotografien zu erfahren, ist eine schwierige und zeitintensive Aufgabe, die viel Recherche und Expertenwissen erfordert. Genaue, wohlinformierte Antworten auf obige Fragen sind jedoch unabdingbar, damit die historische Arbeit mit Fotografien überhaupt beginnen kann.

Um die aus zahlreichen Archiven, Museen und privaten Kollektionen in der Türkei, Serbien und Bosnien und Herzegowina zusammengetragenen Fotografien korrekt deuten zu können, hat das SIBA-Team grossen Aufwand betrieben. Von besonderer Bedeutung ist die enge Zusammenarbeit mit Spezialisten vor Ort. Cengiz Kahraman, Leiter des Fotografiemuseums Istanbul, und Prof. Dr. Mehmed A. Aksamija, Professor für Fotografie an der Kunstakademie Sarajevo, nahmen unsere Initiative mit Begeisterung auf und standen uns als wichtige Berater zur Seite. Beide leiden in ihrer eigenen Arbeit unter dem Mangel an finanzieller und institutioneller Unterstützung und Wertschätzung für die Bewahrung des visuellen Erbes in ihren Ländern. Mit dem Museum Jugoslawiens in Belgrad führten wir ferner das über SNF-SCOPES finanzierte Kooperationsprojekt Visual Archive Yugoslavia (VAYU) durch, das sich mit Problemen der Digitalisierung visueller Quellen beschäftigte.

Eine Auswahl der bearbeiteten Bilder ist als wissenschaftliche Edition auf dem Onlineportal Visual Archive Southeastern Europe aufrufbar. In Zusammenarbeit mit dem Museum Jugoslawiens (Belgrad), dem Fotografiespezialisten Mehmed Aksamija (Sarajevo) und dem Belgrader Künstler und Designer Igor Stepancic konzipierten wir ferner die Ausstellung Cities on the Move – Post-Ottoman, die den urbanen Raum postosmanischer Städte in der Zwischenkriegszeit in fünf thematischen Einheiten erfahrbar macht. Diese sind:

  1. Das Stadtzentrum als repräsentative Bühne, auf der die politische Elite für ihre nationalen Ziele warb.
  2. Das Basarviertel als wirtschaftliches und soziales Herzstück jeder osmanischen Stadt, wo die Bevölkerung unabhängig von Geschlecht und Stellung zusammentraf.
  3. Sport und Militär wird ein Mittel zur nationalen Mobilisierung der männlichen UND weiblichen Jugend.
  4. Kleidung markiert den gesellschaftlichen Wandel von Untertanenschaft zur Zivilgesellschaft.
  5. Die Säkularisierung von Freizeit: Die zeitgenössische Maxime eines gesunden Volkskörpers förderte die Verbreitung von Massensport. Zielgruppe war die Jugend beiderlei Geschlechts, arme Ältere blieben ausgeschlossen.

Die Wanderausstellung war zwischen 2017 und 2019 in Basel, Belgrad, Sarajevo, Istanbul, Graz, Ljubljana und Zagreb zu sehen und ein grosser Publikums- und Medienerfolg (siehe Publikationen). Das bosnische Fernsehen drehte darüber eine Dokumentation.

In Zusammenarbeit mit dem prominenten kroatisch-tschechischen Regisseur Lordan Zafranovic produzierten wir ferner den experimentellen Dokumentarfilm Zeitgeist, der die Geschichte postosmanischer Städte als Reigen historischer Fotografien erzählt und so im wortwörtlichen Sinn des Projekttitels die Lebenswelten postosmanischer Nachkriegsstädte visuell erforscht und für die Nachwelt erschliesst.

Im Zusammenhang mit dem SIBA-Projekt haben an der Universität Basel mehrere internationale Konferenzen und Workshops stattgefunden (siehe Anlässe). Publikationen in Buchform sind im Erscheinen.

SNF-Projektförderung: Juli 2013 bis Dezember 2018 (SIBA); Juli 2015 bis Juli 2018 (VAYU).